Wir sind Fremde – fast überall

Bei der Recherche in der  Spurensammlung unserer Ahnen stellen wir (oft zu unserem Leidwesen) fest, dass sich unsere Vorfahren sich nicht an der ihrer Scholle festgeklammert hatten. Meist blieb sie nur zwei bis drei Generationen, an einem Ort, manchmal waren sie nur auf der Durchreise.

Kein festgepflanzter Baum

Dass die Menschen vor 200 Jahren sich in ihrem Heimatort wie ein Baum festgepflanzt hatten- dieser Zahn wird einem Forscher schnell gezogen.  Und wir müssen erkennen: Auch damals waren wir Fremde– fast überall.

Schon allein der Umzug in den Nachbarort erwies sich als logistisches Unterfangen; mit Leiterwagen oder Karren über Landstraßen und Hohlwege, in besten Fall mit der späteren Eisenbahn oder Fährverbindungen.

Flexibilität und Anpassung

Aber die Tatsache ist und bleibt, dass Mann/Frau Fremde an einem Ort waren, was ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassung erfordert.

Schon im Vorfeld der Fabrikindustrialisierung hatten sich regionale Cluster gebildet, die eine hohe Sogkraft auf diejenigen ausübten, die Fertigkeiten vorzuweisen hatten. Heute würden wir sagen, die Industriezentren wie die Klingenstadt Solingen, Leinestadt Bielefeld oder die Wirtschaftsregion Aachen, der sich als Textilregion hervortat, benötigten dringend Facharbeiter.  Auch aufstrebende Städte wie Eupen mit ihren vielen Feintuchmanufakturen zogen zum Beispiel gegen Ende des 17. Jahrhunderts hunderte von Tuchscherern magisch an.

Kein Platz für Sentimentalitäten

Gerade heute verfügen wir über viele Quellen innerhalb der belgisch-deutschen Grenzregion und können dadurch besser rekonstruieren, wie die Wanderungen verliefen und das Verhalten der jungen Männer und Frauen aus der Ferne deuten.  Diese mussten als Migranten  die preußischen Amtsstuben durchlaufen.  Ihre Migrationsbestrebungen,  warum sie ins Nachbarland wollten, wurden in deutscher Gründlichkeit dort festgehalten. Der Hauptgrund lag bei vielen darin, mehr zu verdienen, obwohl nicht wenige einfach auch den preußischen Militärdienst entkommen wollten.

Aber was besonders interessant ist, dass es im Gegensatz zu heute, keine große Bindung an einem Ort gegeben hat. Oder anders ausgedrückt: Für Sentimentalitäten gab es keine Platz und keine Zeit!

Lohn und Brot ohne Pendlerpauschale

 Die jungen Migranten versprachen sich Lohn und Brot und zogen ihrer möglichen Arbeitsstelle hinterher. Sich packten ihre Bündel und zogen, wenn nicht ins Zentrum, sondern an die Peripherie ihrer neuen Wirkstätte. Jedenfalls dorthin, wohin sie auch gut zwischen Arbeits-und Wohnraum  hin- und herpendeln konnten

Was wir heute mit unserem SUV erledigen, schafften unsere Ahnen flotten Schrittes. Und die Sogwirkung zog nicht nur Facharbeiter an, sondern auch die „Ungelernten“. Wie der Bauer, Halfmann oder Tagelöhner, die Magd, die Spinnerin, die junge Witwe.

Meist brauchte es oft nur eine Generation, um heimisch zu werden, sich zu etablieren und Netzwerke zu gründen.

Was bedeutet die Migration für uns Forscher?

Natürlich würde ich es als Forscher es lieber sehen, wenn sich meine Vorfahren überhaupt nicht bewegt hätten. Oft verliert sich die Spur schon nach der zweiten Generation. Manchmal zieht mein Urahn nur in den Nachbarort oder nimmt dort wenigstens eine  junge Frau zur Braut, wie es der Eintrag ins Kirchenbuch beweist.

Aber es kommt auch vor, dass wir Wissenschaftler und Hobbyforscher überhaupt nichts finden. Die Spur hat sich verloren, mein fünffacher Urgroßvater gibt nichts mehr preis. Wohin mag er verschwunden sein? Ist er in eine andere Region gewandert, zum Militärdienst eingezogen oder schon in jungen Jahren verstorben und irgendwo als Namenloser verscharrt?

Keine Antwort, nur Möglichkeiten

Wohin des Wegs ging er, möchten wir fragen und erhalten natürlich keine Antwort, nur lauter Möglichkeiten. Übrig bleibt vielleicht bleibt uns nur  die bleibende Eingebung, dass Flexibilität, Mobilität, Fremdsein und Anpassung nicht unsere heutige Erfindung sind.

Unsere Vorfahren haben sie uns längst vorgelebt.

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