Die Sache mit den Ahnen wird dann erst interessant, wenn zu den langweiligen Dokumenten das „Fleisch“ hinzugefügt wird. Beef in Form von Fotos, Haushaltsbücher, Poesiealbum, Briefe, ein Küchenrezept von der Uroma für den Christstollen oder gar Wehrpässe.
Alte Fotos haben eine Aura
Da der Mensch ein Augentier ist, sind alte Fotos mit das Schönste, was einem Forscher passieren kann. Der bloße Name wird auf einmal eine Person aus Fleisch und Blut: So also sah die Urgroßmutter im Sonntagsstaat aus, der Großvater in Wehrmachtsuniform, die Tante im schwarzen Konfirmationskleid etc. Und obwohl die Fotos oft im Atelier geschossen wurden und wie gestellt wirken, besitzen sie eine eigentümliche Eindringlichkeit. Wir schauen sie uns gerne an und können gar nicht sagen, was genau uns daran so fesselt. Was genau macht die Faszination aus?
Keine inflationären Handyfotos
Im Gegensatz zu vielen schon inflationär geschossenen Handyfotos wirken die Atelier-Konterfeis seltsam authentisch. In ihrer Starrheit und aufgrund des Seltenheitswert. Denn sowohl der Fotograf als auch das Foto-„Opfer“ wussten: Es gibt nur ein, zwei Shooting-Chancen und das das war`s.
„Authentische“ Sonntagsbilder
Ich erinnere mich an einen Sonntagsausstellung im Essener Folkwang Museum. Dort wurden die Leihgaben von Sonntagskleidern, Handtaschen, die guten Schuhe, Fußbälle, Puppen, Teddybären, Radios sowie Wohnzimmereinrichtungen wie Reliquien behandelt und liebevoll in Szene gesetzt. Dazwischen großformatige Fotos, die zeigten, wie die Menschen damals den Sonntag verbrachten. An dem Tag hatte man/frau Zeit und konnten Ausflüge unternehmen, zum Frühschoppen gehen, Verwandte besuchen, an der Kaffeetafel, kurz – es sich gut gehen lassen.
Der Sonntag war es wert, auf Fotos verewigt zu werden
Und der einzige freie Tag der Woche war es dann auch wert, für die Ewigkeit festgehalten zu werden. Und weil der Film (Ja, es gab noch keine Digitalkameras) erst abgeben werden konnte, wenn er voll war, gibt es von ganzen Generationen ganz viele Sonntags-, Geburtstags-, Kaffee-Kuchen-Bilder.
Kritiker mögen sagen, sie spiegeln nicht den Alltag wider. Mag sein. Aber der Betrachter spürt in den wenigen Abbildungen unserer Vorgänger nicht nur Rarität und damit Kostbarkeit, sondern auch, dass die Vorfahren es in diesem Moment für wert befunden haben, es für die Nachwelt zu knipsen.

Bilder sind zärtliche Gesten für die Nachwelt
Meine Urgroßmutter hielt es zum Beispiel für wichtig, ihre Freundschaft mit ihrer besten Freundin für die Zukunft festzuhalten. Das Bild muss zwischen 1915 und 1920 entstanden sein und berührt mich aufgrund dieser Besonderheit ganz besonders. Andere Bilder zeigen meinen Großvater bei der Arbeit als Zimmermann. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, weil er vor meiner Geburt verstarb. Aber wenn ich ihn dabei betrachte, wie er den geschmückten Kranz auf dem Dachstuhl befestigt, so bekomme ich mehr als nur eine Ahnung, dass es ihm persönlich wichtig war, diesen Ausschnitt seines Lebens für die Erinnerung festzuhalten. Dort war der Job ein Teil seiner Berufung. Wer kann das schon von sich behaupten? Und wenn ich das spüre, so fühle ich auch etwas vom „Fleischgehalt“ bei der Ahnenforschung, der mir bei den spröden Dokumenten nicht unbedingt herüberspringt.

Rock-Urgestein Mick Jagger als moderner Urgroßvater
Glücklich kann sich also derjenige schätzen, der ein Foto seiner Ahnen vorweisen kann. Und wer meint, Urgroßväter seien Typen mit Pickelhaube, stocksteif und mit Schnurrbart, so gibt es ein modernes Beispiel, der uns einen Besseren belehrt.
Mick Jagger ist so einer. Wie das? Ganz einfach. Über seine Tochter, deren Tochter und deren Kind ist Oberstone nicht nur Urgestein des Rocks, sondern Urgroßvater geworden, während gleichzeitig seinem drei jährigen Sohn Kinderlieder vorsingt. Great –Greatpapa was a Rolling Stone ist kein Gerücht, sondern Wirklichkeit.
Der Vorteil bei Mick? Im Gegensatz zu meiner persönlichen raren Fotoausbeute, die ich in Bilderrahmen stecke, können seine Nachfahren mit seinen Porträts (inklusive Ex-Frauen, Geliebte, Affären und sonstige Kräuschen) ganze Paläste tapezieren.
Man sieht die Ähnlichkeit von deiner Uroma.
Liebe Grüße